Interview mit Frau Renate Amuat, Forum Schweizer Geschichte Schwyz
Im Zusammenhang mit der Ausstellung: Märchen, Magie und Trudi Gerster
Wie wurden Sie zur Märchenerzählerin?
Was war der Anlass und wie sind Sie es geworden?
Angefangen hat meine Liebe zu den Märchen in der Kindheit. Meine Mutter und die älteste Schwester erzählten oder lasen sie mir vor. Sobald ich lesen konnte, gehörten zwei Bücher zu meiner Lieblingslektüre: die Märchen von Andersen und der Brüder Grimm. Immer wieder griff ich zu diesen Bänden, und gerne las ich dieselben Märchen mehrmals. Sie waren meine Schatzkiste, die ich leidenschaftlich gerne öffnete. Ich schrieb in meiner Primarschulzeit auch eigene Märchen.
Mit weiterer Märchenliteratur, Märchenbetrachtungen sowie Wirkungen der Märchen aus pädagogischer Sicht, kam ich im Lehrerinnenseminar Ingenbohl in Kontakt. Wir lasen beispielsweise: Bruno Bettelheim: „Kinder brauchen Märchen“, Max Lüthi: „Es war einmal...“ und Hans Traxler: „Die Wahrheit über Hänsel und Gretel“. Das Thema faszinierte mich sehr, und so schrieb ich auch damals wieder selber Märchen.
Als Primarlehrerin und bald auch schon als Patin und Tante erlebte ich dann die Wirkung und die Kraft der Märchen beim Erzählen. Immer wieder setzte ich dieses Mittel im Unterricht ein und tauchte zusammen mit den Kindern in die Märchenwelt ein. Ich erzählte Volksmärchen, aber auch selbst erfundene. Die Augen der Kinder leuchteten, und wir alle konnten uns begeistern für eine gestalterische Verarbeitung, ein Lied oder das kreative Nachspielen einer Szene. In dieser Zeit gestaltete ich auch Figuren zum Bespielen.
Von der Möglichkeit, das Märchenerzählen zu erlernen, erfuhr ich von einem Therapeutenpaar, welches selbst eine Ausbildung bei Mutabor, Schule für Märchen und Erzählkultur, besucht hatte. Zu dieser Zeit waren meine eigenen Kinder jedoch klein, und unsere Familiensituation liess es nicht zu, übers Wochenende die Ausbildung zu absolvieren. Dennoch erzählte ich auch meinen Kindern sehr viele Märchen, und zusammen mit meinem Mann spielten wir daheim auch Szenen nach. Solche Momente waren prägende Glücksmomente und sind bis heute wertvolle Perlen der Erinnerung.
Sobald es dann meine familiäre Situation erlaubte, meldete ich mich für das Einführungsseminar bei Mutabor an. Dies war im Herbst 2009. Sofort war mir klar: Diese Ausbildung will ich machen. Ich erkannte, die Märchen sind für mich Seelennahrung. Heute bin ich überzeugt: Es war eine der besten Entscheidungen meines Lebens. Die Märchen sind ein prägender Teil meines Lebens geworden. Fortbildungsseminare bei Mutabor und Kurse bei Silvia Studer-Frangi schlossen sich an.
Dennoch spüre ich ganz deutlich: Märchenerzählerin ist man nicht einfach durch ein Zertifikat in der Hand, Märchenerzählerin sein bedeutet Begeisterung, Leidenschaft, Verinnerlichung und Herzenssache. Zusammen mit der Gemeinschaft der Zuhörenden lebt die Erzählerin, was sie sagt, achtsam, begeisternd und ansteckend.
Durch einen glücklichen Zufall begegnete mir Sander Kunz, ein Musikpädagoge und Schatten- /Objekttheaterspieler. Daraus ergab
sich eine märchenhafte Zusammenarbeit. Wir führen ein Kinder- und ein Erwachsenenprogramm in unserem Programm und bieten gemeinsam Kurse an.
Warum finden Sie Märchen wichtig
Märchen vermitteln Botschaften, machen Mut, schenken
Zuversicht. Sie können als Beitrag zu Gesundungsprozessen gesehen werden. Sie helfen uns, mit Zuversicht und Vertrauen durchs Leben zu gehen, immer wieder aufzustehen und den eigenen
Kräften zu trauen. Märchen vermitteln ein positives Weltbild, ohne dass sie das Schwierige ausklammern. Ihre Kernbotschaft lautet: Dein Leben kann noch so schwierig sein, am Schluss
kommt alles gut! Mit dieser Gewissheit leben zu können, macht uns stark und lässt uns vieles meistern.
Märchen haben die Kraft und Ausstrahlung in sich, zu einem wunderbaren Gemeinschaftsgefühl beizutragen. Miteinander werden Schwierigkeiten durchlebt, gemeinsam kann aufgeatmet, geschimpft und gelacht werden. Das Durchleben von Not und Angst, Freude und Schmerz, Erfolg und Misserfolg verbindet und beglückt. Schwierige Themen wie Eifersucht, verstossen sein, in Schwierigkeiten stecken und der Verzweiflung nahe sein: All dies und vieles mehr kann mit Hilfe des Märchens verarbeitet werden, indem sich die Kinder mit den verschiedenen Protagonisten und Situationen identifizieren. Ohne dass man diese Rolle im wirklichen Leben spielen muss, kann man sich in die ganze Palette der verschiedenen emotionalen Regungen einfühlen und sie durchleben. Es findet dabei eine emotionale Reifung statt.
Die Sprache der Mimik lässt auch fremdsprachige Kinder verstehen: Da passiert etwas Gefährliches, etwas Lustiges, etwas Zauberhaftes. Zudem wird der Sprachschatz bereichert. Sprüchlein wirken bei Kindern magisch. Sie werden gerne nachgesagt und wiederholt. Märchen regen die Phantasie an und schaffen innere Bilder. Diese sind so verschieden wie die Menschen. Es gibt da kein richtig und falsch!
Welches ist das erste Märchen, an das Sie sich erinnern?
Meine erste, ganz frühe Erinnerung ist ein Kniereiter. Auf den
Knien meines Vaters und seinen Augen zugewandt,
hüpfte ich im Rhythmus des gereimten Verses auf und ab. Eigentlich war dieser Reim kein Märchen, aber er enthielt auf seine Art alle Elemente, die auch für das Märchenerzählen relevant sind. Die Erinnerung an diesen Kniereiter verbinde ich daher inhaltlich wie atmosphärisch mit den Wesensmerkmalen des erzählten Märchens: persönliche Nähe und Gemeinschaft, Vertrauen darauf, dass alles gut kommt, Momente der Ueberraschung und
des unerwarteten Geschehens, dann auch Spannung, Freude am Spiel mit der Sprache und die Vorstellung und Schöpfung innerer Bilder, wie wohl die drei Prinzessinnen ausgesehen haben in ihrem Schloss. Immer wieder bat ich meinen Vater um diesen Kniereiter. Die Wiederholung wurde zum Ritual.
Das allererste wirkliche Märchen, an welches ich mich erinnere, ist das spannende, heitere norwegische Märchen „Die drei
Böcke Brausewind“. Es war illustriert und ich erinnere mich noch heute genau an die Bilder: an den grossmauligen Troll und die tapferen, kecken Geissböcke. Es ist ein starkes
"Kinder- und Mutmacher-Märchen".
Nicht zufällig habe ich es, zusammen mit Sander Kunz, meinem Auftrittspartner, in unser Repertoire aufgenommen. Sander spielt das Märchen als Schattentheater, während ich dazu
erzähle und das Trappeln der Böcke, welche über die Brücke laufen, mit Trommeltönen unterstreiche.
Welches ist ihr liebstes Märchen und warum?
Eines meiner Lieblingsmärchen ist «Hans Chueschwanz». Ein Senn, arm und wegen seines Namens gehänselt, besitzt nur ein «kleines Heimetli», zwei Kühe und eine Geiss. Hans träumt aber einen Traum. Und er macht sich schliesslich auf, um diesem Traum zu folgen, zu seinem grossen Glück! Hans Chueschwanz gefällt mir so gut, weil dieses Märchen aufzeigt, wie wichtig es ist, seinen Träumen zu vertrauen und zu folgen. Das Märchen führt zur Erkenntnis, dass das grosse, dauerhafte Glück in den Menschen selbst verborgen liegt. Zu diesem Märchenmotiv findet man weltweite Varianten. Selbst Paulo Coehlos Bestseller «Der Alchimist» behandelt es. Hans Chueschwanz, der Protagonist des Märchens, macht sich also auf den Weg, um am vermeintlichen Ziel zu erfahren, dass sein Schatz nicht dort, sondern seit eh und je bei ihm zuhause vergraben liegt. Er macht sich auf den Rückweg und entdeckt das Geheimnis seines Lebens: Glück und Reichtum sind in ihm selbst verborgen.
Meine mehrjährige Erfahrung bestätigt es: Die Geschichte von Hans Chueschwanz beglückt Kinder wie Erwachsene gleichermassen und so jedesmal beim Erzählen auch mich selbst. Für mich steht dieses Märchen auch dafür, dass ich meinem eigenen Traum gefolgt bin und heute Märchenerzählerin bin. Auch darum mag ich dieses Schweizer Märchen sehr.
Können Sie uns ein besonderes Erlebnis aus Ihrer Praxis als
Märchenerzählerin schildern?
Ich erzählte im Kindergarten: „Der Wolf und die sieben, jungen
Geisslein“. Danach spielten wir die Geschichte mit
einfachsten Requisiten nach. Die Kinder waren hell begeistert. Da die Rolle des kleinen Geissleins sehr begehrt war, mussten wir diese doppelt- oder gar dreifach besetzen. Das störte aber niemanden. Auch eher zurückhaltende Kinder wagten sich zu exponieren und spielten ihren Part mit Freude. Als wir das Märchen zweimal durchgespielt hatten, hätten die Kinder die Möglichkeit gehabt, ins Freispiel zu wechseln oder eine andere Tätigkeit anzupacken. Niemand wollte etwas anderes spielen, alle wollten nochmals und nochmals die 7 Geisslein aufführen. Bis zum Mittag spielten wir dieses Märchen x-mal. Niemand interessierte sich an diesem Morgen für Legos, Bauklötze und Puppenhaus. Alle waren glücklich und zufrieden. Am nächsten Morgen tönte es bereits in der Garderobe: „Spielen wir heute wieder den Wolf und die sieben jungen Geisslein?“
Das Märchen eine Generationen übergreifende, heilsame Wirkung haben, zeigt folgendes Erlebnis, in einem Altersheim.
Mir fiel eine demente Frau auf, welche im Rollstuhl sass und ganz in sich gekehrt war. Ich nahm wahr, wie sich ihr Gesicht innerhalb der Märchenerzählzeit veränderte. Sie richtete
ihren Blick auf mich, ihre Augen waren auf mich bezogen, wirkten wach und aufmerksam. Die hochgezogenen Augenbrauen markierten Interesse und Präsenz. Offensichtlich holten die
Märchen diese Frau in ein bewusstes Hier und Jetzt. Sie wirkte wie aus dem Schlaf erwacht.
Ein Märchen-Tipp: Auf welches Märchen möchten Sie besonders hinweisen
und warum?
Märchen werden eingeteilt in Zaubermärchen, Schwankmärchen,
Tiermärchen, Dummlingsmärchen und viele weitere Kategorien.
Persönlich bevorzuge ich die Zaubermärchen. Bei meinem Tipp möchte ich das Alter der Zuhörerschaft
berücksichtigen und differenzieren:
Für Vorschulkinder finde ich
Kettenmärchen wunderschön, wie etwa „Die fünf Finger“, holländisch oder „Das Rübenziehen“, russisch. In beiden Märchen lautet eine Botschaft: Zusammen sind wir stark. Und es
sind die Kleinsten und Schwächsten, welche hier zu einem gelingenden Ausgang verhelfen.
Für Kinder im
Schulalter empfehle ich folgende zwei Zaubermärchen: „Zottelhaube“, ein norwegisches Märchen und „Das Meerhäschen“, deutsches Märchen,
das auch in der Sammlung der Brüder Grimm enthalten ist.
Beide Märchen sind sehr spannend, zauberhaft und ausdruckstark. Das Unmögliche wird hier möglich gemacht. Einmal ist die Hauptfigur, mit welcher sich die Zuhörenden
identifizieren, ein Mädchen,, das andere Mal ist es ein Junge.
Für Erwachsene schlage ich das Zaubermärchen „Die Nixe im Teich“, vor. Dieses deutsche Märchen ist auch im Bestand der Grimmschen Sammlung enthalten.
Aufnahme im Rahmen der Veranstaltung von Märchen im Leben zum Thema "Geld & Gold" für Erwachsene.
Märchen für Kinder ab 4 Jahren, Mythen Center Schwyz